A. Keith u.a. (Hrsg.): Ernst Jünger – Joseph Wulf

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Title
Ernst Jünger – Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962–1974


Editor(s)
Keith, Anja; Schöttker, Detlev
Published
Frankfurt am Main 2019: Vittorio Klostermann
Extent
168 S.
Price
€ 29,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Aurelia Kalisky, Berlin

2019 erschien ein kleiner Band mit der Korrespondenz zwischen dem deutschen Schriftsteller Ernst Jünger (1895–1998), einer zentralen Figur der konservativen Revolution und der militaristischen Ideologie der Zwischenkriegszeit, und dem polnisch-jüdischen Holocaust-Historiker Joseph Wulf (1912–1974). Es sind insgesamt etwa 150 Briefe, die sich die beiden Männer zwischen 1962 und 1974, dem Jahr des Selbstmordes des Historikers, schrieben. Der schmale Band wurde sorgfältig ediert von Anja Keith und Detlev Schöttker, die bereits seit einigen Jahren an der Korrespondenz Ernst Jüngers in dessen Nachlass arbeiten. Man könnte meinen, dass die Lektüre des Briefwechsels eher für ein begrenztes Publikum von Holocaust-Historiker/innen oder von spezialisierten Germanist/innen relevant sei.1 Dies ist indes nicht der Fall: Das Zeitdokument ist faszinierend für alle, die sich für das Nachkriegsdeutschland sowie die Entwicklung der Geschichts- und Erinnerungskultur interessieren.

Zusammen mit dem französischen Überlebenden und Holocaust-Historiker Léon Poliakov war Joseph Wulf in der Bundesrepublik durch drei wichtige Dokumentensammlungen über NS-Deutschland hervorgetreten: „Das Dritte Reich und die Juden“ (1955), „Das Dritte Reich und seine Diener“ (1956), „Das Dritte Reich und seine Denker“ (1959). Diese Bücher, in denen wichtige Persönlichkeiten der Bundesrepublik, die sich unter dem NS-Regime kompromittiert hatten, namentlich genannt wurden, brachten Wulf viel Kritik ein. Er setzte seine historiographische Tätigkeit fort, indem er Biographien von Mitgliedern der NS-Führungselite (Bormann, Himmler) veröffentlichte, parallel dazu aber auch an der Form der dichten quellengestützten Geschichtsschreibung festhielt, die schon seine Publikationen mit Poliakov gekennzeichnet hatte. Nicolas Berg charakterisierte sie als „Dokumentarstil“.2 Als Wulf das erste Mal an Ernst Jünger schrieb, hatte er gerade die ersten zwei Bände eines groß angelegten Projekts zur „Kultur im Dritten Reich“ abgeschlossen – beide erschienen 1963 und waren der Musik bzw. den bildenden Künsten gewidmet. Kurz vor der Fertigstellung seiner Einleitung zum dritten Band der Reihe über „Literatur und Dichtung im Dritten Reich“ (ebenfalls 1963 erschienen) wandte er sich an Jünger mit der Bitte, einen 1934 an den „Völkischen Beobachter“ gerichteten Brief abdrucken zu dürfen, in dem der Schriftsteller seine Weigerung erklärte, von den Nazis vereinnahmt zu werden – für Wulf der „Inbegriff der inneren Emigration eines Schriftstellers im totalitären Staat“ (S. 11).

Aus diesem Kontakt, der Jünger nur schmeicheln konnte, entstand eine reiche Korrespondenz. Bei seiner Arbeit holte Wulf in regelmäßigen Abständen die Ansichten des illustren Gesprächspartners ein. Die Frage der Judenvernichtung und der Täterschaft der Deutschen – vor allem der intellektuellen Elite und des Militärs –, über die Wulf vergeblich versucht, Jünger zu einer klaren Aussage zu bewegen, ist das Thema, zu dem der Austausch stets zurückkehrt. Und auch wenn Jünger sich durchgehend höflich zeigt, bleibt er wortkarg.

So kann der Leser fasziniert die Entwicklung von Wulfs Haltung verfolgen, seit der Ehrerbietung gegenüber dem „verehrten Herrn Jünger“ in den ersten Briefen von 1962/63 bis zur herzlichen Vertrautheit („Lieber, sehr lieber Jünger“) in den letzten Briefen von 1974. Zwischen diesen beiden Momenten durchläuft die briefliche Beziehung Höhen und Tiefen. Bestimmte Fragen geben Anlass zu wahrhaftigen Wortgefechten. So weigert sich Jünger, die aktive Beteiligung eines Hans Grimm an der nationalsozialistischen Ideologieproduktion anzuerkennen, und er schweigt zu Wulfs Angriffen etwa auf Martin Heidegger, mit dem Jünger durchgehend und fast bis zu Heideggers Tod korrespondiert hat. Als sich Wulf am 4. Juni 1966 an den ehemaligen Wehrmachtsoffizier mit der Frage wendet, ob dieser an einem Fernseh-Dokumentationsprojekt über „die Geschichte der Wehrmacht von 1918 bis 1945“ mitwirken könne, erwidert Jünger, dass das Thema ihn zwar interessieren könnte – aber nur, „falls sich seine Behandlung nicht auf die Zusammentragung belastender Materialien beschränkt“ (Jünger an Wulf, 19. Juni 1966, S. 67). Schließlich könne man „belastendes Material [...] gegen jeden Berufsstand zusammentragen“ (17. Juli 1966, S. 71). Diese als Forderung nach Objektivität getarnte Blindheit manifestiert sich in und durch Jüngers Sprache selbst, etwa wenn er sich an den „fürchterlichen Willrich3 und seinen Vernichtungsfeldzug gegen [Gottfried] Benn“ erinnert (Jünger an Wulf, 2. April 1966, S. 64, meine Hervorhebung). So überdeckt manchmal ein freundlicher Ton die unüberwindbare Kluft. Dieser Widerstreit („différend“) im Sinne Jean-François Lyotards – der Widerstreit zwischen einer dem Täterkollektiv verhafteten Subjektivität, die den Standpunkt des Militär-Taktikers einnimmt, und der Perspektive eines Überlebenden, der mit allen Mitteln versucht, seinem Gesprächspartner die universelle Tragweite des genozidalen Ereignisses begreiflich zu machen – lässt sich nicht, wie Keith und Schöttker es in ihrem Nachwort nennen, auf „Differenzen“ (S. 156), „unterschiedliche Auffassungen“ (S. 157) oder „Gegensätze“ (S. 158) reduzieren. Ebenso wenig lassen sich Wulfs aufklärerische und historiographische Tätigkeiten mit dem Kriegstagebuch Jüngers als Werke von „Zwei Chronisten des Holocaust“ (S. 147–150) parallelisieren, wie es im Titel des einleitenden Teils des Nachworts heißt.

Doch abgesehen von den etwas unglücklichen Untertiteln entwickelt das Nachwort die Positionen der beiden Korrespondenten sehr genau und analysiert Jüngers Verweigerungshaltung zu Recht als Versuch, „der historisch-politischen Auseinandersetzung auszuweichen und diese auf eine psychologische Ebene zu verlagern“ (S. 159). So schreibt Jünger an Wulf, fast zu Beginn des Briefwechsels, sich an den Tod seines Sohnes erinnernd, der in Italien von Partisanen erschossen wurde: „Nun, ähnliche Erfahrungen haben Sie gewiss in massiverer Weise noch gemacht als ich, der ich davon nur, allerdings schmerzhaft, gestreift wurde. Ich will auch nichts mehr davon wissen.“ (Jünger an Wulf, 21. November 1963, S. 28) Wovon will eigentlich Jünger „nichts mehr“ wissen? Durch die Gegenüberstellung der Erfahrung von „massenhaftem“ Unglück mit der Erfahrung von „gestreiftem“ Unglück vermeidet es Jünger, das Wesen des Genozids als geplanter Massenmord anzuerkennen. So schreibt er in einem seiner ersten Briefe an den jüdischen Auschwitz-Überlebenden: „Ich kann mich in Ihre Lage versetzen, denn sie ist ähnlich jener, in der ich mich während der zwanziger Jahre befand. Mich bedrückte damals wie Sie ein großes Schicksal, in das ich als junger Mensch hineingezogen worden war. Es dauerte lange, bis ich den Ersten Weltkrieg verdaut hatte.“ (Jünger an Wulf, 8. Februar 1965, S. 50)

Angesichts der von Jünger immer wieder erteilten Abfuhr ergibt sich die Frage, wie Wulfs Beharren interpretiert werden kann. Ist es Eigensinn gewesen oder eine Form von selbstzerstörerischer Sturheit? Wie Wulfs Biograph Klaus Kempter schon 2013 andeutete, ist der Briefwechsel auf jeden Fall ein „krasses Beispiel“ für den „Mythos vom deutschen-jüdischen ‚Gespräch‘“, den Gershom Scholem 1964 angeprangert hatte.4 Wahrscheinlich wollte Wulf in Jünger ein deutsches Pendant zu seinem Außenseiterstatus sehen. Er suchte auch den Kontakt zu einer geistigen und literarischen Elite, die ihm zeitlebens verschlossen blieb. Dennoch lassen sich Wulfs Absichten nicht auf den Wunsch nach Anerkennung reduzieren, und auch seine Blindheit gegenüber Jünger sollte vielleicht nicht überzeichnet werden. Weit davon entfernt, sich, wie Jünger ihn auffordert, mit der Zusicherung zufrieden zu geben, dass sein Korrespondent „in der Beurteilung der Schandtaten mit [ihm] einig [ist]“ (Jünger an Wulf, 14. Januar 1965, S. 48), zögert Wulf nicht, ihn manchmal sehr direkt anzugreifen. Es scheint also eine andere Dynamik am Werk gewesen zu sein, wie es Schöttker und Keith andeuten: „Wulf entwickelte für Jüngers Psyche allerdings keine Sensibilität und akzeptierte dessen Ausweichen nicht. Vielmehr versuchte er weiterhin, den Briefpartner zum Mitstreiter seiner Aufklärungsarbeit zu machen.“ (S. 159) Und wer mit Wulfs ironischem Schreiben vertraut ist, kann an manchen Stellen eine Art Doppelstrategie vermuten, wo der Ausdruck größter Bewunderung einen kaum verschleierten Angriff verbirgt. So heißt es in dem bereits erwähnten Brief vom 4. Juni 1966, in dem Wulf Jünger um seine Mitarbeit an einer Fernsehdokumentation über „die Geschichte der Wehrmacht von 1918 bis 1945“ bittet: „Ich bedaure übrigens, dass Sie sich jetzt ausschließlich mit Insekten beschäftigen, denn ich glaube weiter, dass Sie nach dem Zweiten Weltkrieg vieles zu sagen hätten, worauf viele vergeblich warten.“ (S. 65)

Eine pessimistische, Scholem’sche Lesart der Korrespondenz zwischen den beiden Männern wird dazu neigen, Wulfs gescheiterten Versuch als einen Dialog „mit sich selbst“, wie es bei Scholem heißt, zu interpretieren. Aber vielleicht sollte diese Idee ad absurdum geführt werden. Wulf wusste, dass er durch diese Korrespondenz mit Jünger ein gewisses Deutschland zur Rechenschaft zog. Der polnisch-jüdische Überlebende sah in dem konservativen Schriftsteller sowohl einen Lehrbuchfall als auch ein Symbol. Indem er versuchte, ihm bestimmte Reaktionen zu den brennendsten Fragen zu entlocken und ihm Formen des öffentlichen Engagements aufzuzwingen, verfolgte er dasselbe Ziel wie mit seinen Werken: die deutsche öffentliche Meinung aufzuklären. Denn Wulfs Briefe haben einen versteckten Adressaten: Von dem Moment an, als er gegenüber seinem Gesprächspartner den klaren Wunsch formulierte, die Korrespondenz eines Tages zu veröffentlichen (Wulf an Jünger, 9. März 1966, S. 63), kann man die Hypothese aufstellen, dass Wulf, indem er an Jünger schrieb, sich fortan auch an alle wandte: Juden und Deutsche gleichermaßen. Vielleicht gab es also eine kalkulierte Inszenierung in den verschiedenen Debatten, die Wulf anregte. Wenn er in einem seiner letzten Briefe an den Schriftsteller feststellt, dass Beate Klarsfeld „viel mehr getan“ habe, indem sie Kiesinger ohrfeigte, als er selbst „mit [s]einen ganzen blöden 18 Büchern“ in einem Land, in dem man sich „totdokumentieren“ kann, während die „Massenmörder“ frei herumlaufen (Wulf an Jünger, 9. August 1974, S. 108), erwartete er sicher ein Wort des Trostes, ein entschiedenes Dementi. Wieder blieb es aus.

Anmerkungen:
1 Einige der Briefe sind bereits zuvor veröffentlicht worden: Ernst Jünger / Joseph Wulf, In Beurteilung der Schandtaten. Aus dem Briefwechsel (1962–1974), Einleitung und Kommentar von Anja S. Hübner und Detlev Schöttker, in: Jünger-Debatte 1 (2017): Ernst Jünger und das Judentum, hrsg. von Thomas Bantle, Alexander Pschera und Detlev Schöttker, S. 123–164.
2 Nicolas Berg, Ein Außenseiter der Holocaustforschung – Joseph Wulf (1912–1974) im Historikerdiskurs der Bundesrepublik, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), S. 311–346.
3 Es handelt sich um den Schriftsteller und Künstler Wolfgang Willrich (1897–1948), einen wichtigen Vertreter der NS-Kunstpolitik.
4 Vgl. Klaus Kempter, Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Göttingen 2013, hier S. 307.

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